Mittwoch, 5. Dezember 2012

Weihnachtsfeier im Pflegeheim: Der vergessene Alte


Essen bedeutet wesentlich mehr als nur Brennstoff - es ist ein Auslöser von Empfindungen, eine Reise durch die Geschichte, ein Ritual, eine Feier, ein täglich dreimal zelebrierter Akt des Gebens und Empfangens von Liebe
und eine schöne Gelegenheit zum Exhibitionismus.
 


Stefan Gates (2006)

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Der vergessene Alte im Pflegeheim

Wird es auch dieses Jahr wieder so sein,
wie zu Weihnachten im vergangenen Jahr?

Es war 17:30 Uhr im Dezember im Jahr 2011.
Ich betrat das Pflegeheim.
Im Erdgeschoß befindet sich ein großes Restaurant.
Dort war ein Weihnachtsbasar aufgebaut und es herrschte ein reges Treiben.
Die alten Damen und Herren freuten sich sichtlich über diese andere Art einer Weihnachtsfeier. In den Gängen zwischen den verschiedensten bunten Ständen war immer noch genug Platz für den Rollator oder Rollstuhl und man sah meist in strahlende Gesichter.

Ich drückte den Knopf zum Fahrstuhl und fuhr in eines der oberen Stockwerke.
Mein Ziel war einer jener vergessenen Alten, die den Weihnachtsbasar im Erdgeschoß nicht sehen können.
Ich klopfte an die Tür und trat ein.
Es war stockdunkel im Raum und ich knipste das Licht nahe der Tür an.
Der Alte wachte auf.
Er schaute mich mißmutig an, so, als wollte er sagen: "Was willst Du denn schon wieder hier?"
Dabei kennen wir uns schon seit vielen Jahren . . .
Ich versuchte ein wenig Smalltalk.
Nein, er war schon lange nicht mehr im Rollstuhl gewesen.
Nein zum Weihnachtsbasar war er auch nicht,
da will er auch nicht mehr hin.
Es ist ja doch alles 'Sense'.
Er will nur noch seine Ruhe haben und schlafen.
(Oder sterben . . . ?)

Ich erzählte ihm noch einmal die Geschichte von seiner Weihnachtsfeier im Jahr 2010 hier im Pflegeheim.
2 Stück Sahnetorte,
4 Kekse,
eine Mandarine
und eine Tasse Kaffee!
Das war vor einem Jahr seine Ausbeute!
Und nicht ein einziges mal hatte er sich bei diesem Gelage verschluckt.
Schlecht war ihm später auch nicht, es ist ihm alles vorzüglich bekommen.

Und heute?
Eine Flasche mit Flüssignahrung am Ständer,
direkt über einen Schlauch in den Magen gepumpt!
Das ist sein "alternativer Genuß" anstelle der Leckereien vom Weihnachtsbasar.
Er "darf" im Liegen essen . . . und das geht nur selten gut!

Mir klingt es noch immer in den Ohren, wie er mir vor zwei Jahren sagte: "Ich möchte mal wieder in 'n Apfel beißen!"

Der Alte hätte heute auch da unten beim Weihnachtsbasar im Rollstuhl sitzen können und unbeschadet von den Leckereien naschen können, wenn . . . ja, wenn . . .
Vielleicht wäre alles anders, wenn man ihn im April des vergangenen Jahres nicht in seinem Zimmer im Rollstuhl allein gelassen hätte . . . ?
Vielleicht wäre alles anders, wenn er in einem anderen Pflegeheim betreut würde . . . ?
Vielleicht wäre alles anders, wenn sein Betreuer mehr Zeit hätte . . . ?

Aber dieses "vielleicht" ist halt nicht . . .
Der Alte wird ja jetzt behördlich und juristisch verwaltet.
.

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Rentner Anton (aka Netzgärtner)